Produktivität
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Digitaler Minimalismus

Lesedauer: 4 Minuten

Soziale Netzwerke prägen mittlerweile seit einem Jahrzehnt die Medienlandschaft und das Konsumverhalten unserer Gesellschaft. Mit dem Sammeln und Tracking von Nutzerdaten, sowie der dadurch ermöglichten, zielgerichteten Werbung werden Milliarden an Umsätzen generiert. Viele Stunden am Tag verbringen Jung und Alt damit, ihre Chats auf WhatsApp zu checken, die neuesten Stories auf Instagram zu bestaunen oder die Kauflust steigernde Videos auf YouTube anzusehen. Stunden, die abseits des verlockenden digitalen Geflunkers nicht bloß vielleicht produktiver genutzt werden können. Was im Sommer 2018 zunächst als digital-sozialer Eskapismus begann, ist heute, drei Jahre später für mich eine grundlegende Haltung in Form eines digitalen Minimalismus geworden.

Raus

Seit Anfang 2009 war ich begeisterter Nutzer von sozialen Netzwerken wie beispielsweise Facebook, Google+, Instagram, LinkedIn und vor allem Twitter. Zunächst war es Neugier, wie diese damals neuartigen Formen der digitalen Kommunikation und Vernetzung funktionieren. Später wurde daraus eine Art nahezu zwanghafter Verhaltensmuster durch das ständige Checken irgendwelcher Timelines und (News-)Feeds in jeder freien Sekunde wie beispielsweise in einer Pause zwischen Lehrveranstaltungen und Besprechungen. Die aufkommenden Diskussionen über Datenschutz, Datenlecks und dem Tracking der Nutzer von sozialen Netzwerken über Webseiten hinweg zum zielgerichteten Schalten von Werbung aber auch zum Nachverfolgen des Nutzerverhaltens bis hin zum Anlegen von Persönlichkeitsprofilen stimmten mich zunehmend nachdenklicher. Nach der Lektüre des Buches „Deep Work“ von Cal Newport irgendwann im Winter 2017/18 wurde klar, dass eine intensive Nutzung sozialer Netzwerke und sonstiger digitaler Dienste meine Produktivität und meinen Fokus nicht nur einschränken, sondern sogar blockieren. Also begann ich damit, mich aus den sozialen Netzwerken zu verabschieden – allerdings war’s ein Abschied auf Raten. Zuerst löschte ich meinen Facebook-Account samt WhatsApp und Instagram, dann Monate später mein Google-Konto samt GMail-Postfach und alle den bunten, hübsch designten anderen Diensten. Schlussendlich löschte ich dann auch meine Accounts bei LinkedIn und Twitter. Alles in allem dauerte das fast ein Jahr bis ins Frühjahr 2019.

Erleichterung

Eine Reise mit viel Gepäck ist beschwerlich und langsam. Also war Erleichterung angesagt. Der Ausstieg aus sozialen Netzwerken und digitalen Diensten wie WhatsApp und GMail hat eine Vielzahl an Apps überflüssig gemacht. Das Löschen dieser Nutzerdaten sammelnden Programme von meinem Smartphone, dem Tablet-Computer und dem Arbeitsrechner führte zum einen zu einer physischen Erleichterung der jeweiligen Speicherchips auf ebendiesen Geräten. Zum anderen war es aber auch ein gutes Gefühl, die Geräte und mich selbst auf das digital Notwendige zu reduzieren. Und wie es eben so ist mit guten Gefühlen, die will man beibehalten. Der nächste Schritt war quasi vorprogrammiert. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ungefähr 250 Apps auf jedem Gerät installiert. Kleine Apps, die irgendwelche Erleichterungen brachten, die mittlerweile auch schon von Funktionen im Betriebssystem abgedeckt wurden, Apps, die man einfach mal ausprobiert hat, Spiele, digitale ToDo-Listen und Notizbücher in allen Farben und Formen, Apps von Zeitungs- und Zeitschriftenverlagen, deren Informationen auch über die jeweilige Website bezogen werden können, Fan-Apps von Sportvereinen und vieles mehr. Großteils Datenmüll. Zwei Optionen stehen in diesem Fall zur Wahl: das Gerät in den Werkszustand zurücksetzen und komplett neu einrichten, oder entrümpeln. Wegen dem guten Gefühl fiel die Entscheidung auf Entrümpeln. Und es ging zunächst schneller als erwartet. Im ersten Schwung flogen knapp 100 Apps auf einmal raus. Dann wurde es komplizierter, weil teilweise Alternativen gefragt waren. Eine Frage hat dabei eine zentrale Rolle gespielt: welche Apps und Dienste von Drittanbietern können durch Betriebssystemfunktionen oder vom Hersteller vorinstallierte Apps ersetzt werden?

Haltung

Aktuell halten sich auf meinem Smartphone 47 Apps auf, inklusive der vom Hersteller vorinstallierten Programme. Davon sind gut und gerne 10 Apps jedenfalls entbehrlich und entweder temporär zu Probezwecken installiert oder nur für den bloßen Zeitvertreib. Aber natürlich nutze ich mein Smartphone und meinen Tablet-Computer auch zum Zeitvertreib. Zum Beispiel zum Musik hören oder zum Lesen. Meine Bücher kaufe ich online, aber nicht bei Amazon sondern auf der Website meiner Lieblingsbuchhandlung als eBook. Die heruntergeladene Datei speichere ich dann direkt in der vom Hersteller vorinstallierten Bücher-App. Auch wurden viele, mitunter teure Apps von Drittanbietern durch vorinstallierte Programme und Betriebssystemfunktionen ersetzt. Zum Beispiel nutze ich seit nunmehr drei Jahren die Notizen-App anstelle von Evernote, Bear & Co. Das bringt drei Vorteile: erstens fallen keine Abo-Gebühren dafür an, zweitens ist die App bestens in das Betriebssystem integriert und drittens ist dafür kein zusätzlicher Webdienst zum Synchronisieren bzw. Speichern der Daten notwendig. Natürlich fehlen ein paar schicke Funktionen, aber in Wahrheit kann darauf auch verzichtet werden, denn für fokussiertes Arbeiten braucht man nur wenige, wesentlichen Funktionen. Weniger ist also wie so häufig mehr. Zugegeben, dieser Satz von Ludwig Mies van der Rohe ist schon recht abgedroschen. Aber er bringt die Haltung für den digitalen Minimalismus wunderbar auf den Punkt: mit weniger mehr erreichen – mehr Kreativität, mehr Fokus, mehr Produktivität. Dazu braucht man nicht viel und schon gar nicht viele Apps.

Abschließend sei noch erwähnt, dass die Autorin Caitlin Flanagan in ihrem jüngsten (übrigens lesenswerten) Artikel „You Really Need to Quit Twitter“ in einem Satz treffend beschreibt, worum es sozialen Netzwerken und scheinbar kostenlosen, digitalen Diensten tatsächlich geht:

And that’s when I realized what those bastards in Silicon Valley had done to me. They’d wormed their way into my brain, found the thing that was more important to me than Twitter, and cut the connection

Caitlin Flanagan, „You Really Need to Quit Twitter

Diese Erkenntnis ist schockierend und befreiend zugleich. Denn sie erleichtert den Abschied aus den einvernehmenden Netzwerken, in denen es längst nicht mehr um den digitalen Ersatz menschlicher Beziehungen geht.

Und ganz zum Schluss zwei Literatur-Tipps zum Thema:

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