Produktivität

Das Märchen vom zweiten Gehirn

Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ. Wesentliche Eigenschaften des menschlichen Gehirns sind die Fähigkeiten zum Denken, Entscheiden und Erinnern. Für letzteres gibt es unterstützende Hilfsmittel, die landläufig auch gerne als zweites oder externes Gehirn bezeichnet werden. Doch dieser Begriff ist irreführend, wie sich in einer Diskussion im Hookmark-Forum herauskristallisiert hat.

Auslöser für die Diskussion war das aktuelle Buch Building a Second Brain (kurz: BASB) von Tiago Forte. Marketingtechnisch gesehen ist die Geschichte vom zweiten, ausgelagerten Gehirn genial. Es gibt den Lesern das Gefühl, eine Strategie zur Bewältigung der Informationsflut parat zu haben und darüber hinaus sogar die eigene Produktivität damit steigern zu können. Allerdings kann dieses zweite Gehirn natürlich nicht denken. Es ist also kein Ersatz für das eigentliche, erste Gehirn im eigenen Kopf, sondern bestenfalls eine ausgelagerte Ergänzung in Form eines organisierten und strukturierten Datenspeichers. Forte beschreibt in seinem Buch dafür einen Prozess zum Auslagern von Ideen, Gedanken, Projekten, etc. in Form von Notizen. Diese Notizen werden methodisch erstellt bzw. verarbeitet, strukturiert abgelegt und thematisch oder logisch untereinander verknüpft. Alles klingt beim Lesen einfach und gut beherrschbar, sodass man das gesamte System eigentlich übernehmen möchte.

Der BASB-Ansatz von Forte ist jedoch nichts Neues. Er erinnert stark an eine Mischung aus Luhmann’scher Zettelkasten-Methode und dem GTD-Ansatz von David Allen. Auch Sönke Ahrens schreibt in seinem 2017 erschienen Buch Das Zettelkasten-Prinzip (englische Übersetzung How to Take Smart Notes) von der Verschränkung dieser beiden Methoden. Und genau auf diese Mischung kommt es an. Ein sicheres System, in das man alle relevanten Informationen einpflegt und eine Methode, mit der man dann im Bedarfsfall wieder darauf zugreifen und daran weiter arbeiten kann.
Auch Luhmann hat seinen Zettelkasten nicht als externes Gehirn gesehen, sondern als Denkwerkzeug und „Gesprächspartner“, wie er 1981 in seinem viel zitierten Aufsatz beschrieben hat. Ein Werkzeug, mit dem man zum einen relevante Informationen merken und abrufen und zum anderen, das aus diesen Informationen selbst generierte Wissen besser managen kann.

Das „zweite Gehirn“ ist also in Wahrheit ein persönliches Wissensmanagement-System, ein mehr oder weniger gut strukturierter und organisierter Datenspeicher samt methodischem Ansatz, der dabei hilft, nichts zu vergessen und vor allem wieder darauf zugreifen zu können, wenn notwendig. Und genau deshalb ist der Begriff „Gehirn“ dann doch irreführend bis märchenhaft, denn dieses „zweite Gehirn“ kann nicht denken, es kann auch nicht erinnern. Es kann seinen Besitzer lediglich dabei unterstützen.
Entsprechende Software wie beispielsweise Obsidian liefert für diese Unterstützung einen durchaus wertvollen Assistenzdienst, damit man sich auf das Denken fokussieren kann. Dabei übernimmt die Software neben dem Speichern von Informationen in Form von Notizen auch das Suchen bzw. Finden, das Verlinken von Notizen und eventuell sogar das visuelle Aufbereiten. Ryan J. A. Murphy bezeichnet diese Art von Software sehr trefflich als „Integrated Thinking Environment“ (kurz: ITE). Ein ITE ist eine App, die Werkzeuge zur Verfügung stellt, die das Denken erleichtern und uns in die Lage versetzen, innovativer zu sein. Es handelt sich demnach um die digitale Weiterentwicklung des Luhmann’schen Zettelkastens zu einem persönlichen Wissensmanagement-System.

Übrigens verwendet Obsidian auch einen marketingtechnisch reißerischen Werbeslogan: „A second brain, for you, forever.“ Aber das mit dem zweiten Gehirn bleibt – wie gesagt – ein Märchen. Vorerst jedenfalls.